Komponisten sind schlau, sie lassen sich ihre Stücke von Musikern, von Gleichgesinnten, lesen. Diese studieren die Partitur (wenn es denn eine gibt), konzentrieren sich auf die Finessen und Schönheiten der Komposition.

Anders die Betrachter eines Kunstwerks. Das sind vor allem Leute aus dem Alltag, gewohnt, Bilder schnell zu lesen. Die Augen sind auf praktische Zwecke getrimmt, sozusagen aufs nackte Überleben. Sie wollen gleich wissen, worum es geht. Da ist «babel.überall» (eine weitere Arbeit). Man kann es diesen Augen nicht verargen, wenn sie schnell im Urteilen sind. URRU umgibt sich mit Musik, lässt sich darauf ein, erprobt sogar das Papier als Instrument. Partituren haben die schöne Sitte, das Tempo vorzugeben mit andante, lente, allegro. Wie nützlich wären solche Vorgaben für das Tempo beim Betrachten von Bildern! URRU sperrt sich ein wenig dagegen. Doch sie weiss natürlich um die Wichtigkeit der Langsamkeit, um die Wahrnehmung zu verzögern, in ihren Worten, es geht um Entschleunigung.

An der Arbeitswand, noch frisch und feucht, hängt ihr jüngstes Werk, eine Vielzahl von transparenten Blättern, teils übereinander gelagert, mit je einem Händepaar. Die Betrachter erraten, dass die Hände ein Instrument betätigen, Piano, Bass, Drummer (sie sagt, die verzauberten Hände des Drummers waren nicht leicht darzustellen). Von den Händen geht der Blick allmählich auf das unsichtbare Instrument und dann auf die unsichtbaren Gestalten. Eine wunderschöne Verzögerung und ein Spiel mit den Betrachtern. Da steckt’s. Das kann man lesen. Schon ertönt im Kopf das verspielte Zupfen und Schlagen an den Saiten und Tasten und Fellen. Hier ist der Mensch das hantierende Wesen, die Hände so wichtig wie die Augen.

Und URRU hat geschickte Hände, so geschickt, dass man ihr riet, Chirurgin zu werden. Denn sie beherrscht meisterlich viele Fertigkeiten – kleben, reissen, decken, reiben, schlitzen, fügen, falten, binden, winden, flechten, schneiden, nähen, wickeln… Sie hat zarte, wenn auch kräftige Hände. Hier kommt Kunst tatsächlich von Können. Man schaue ihr auf einem Video nur zu, wie sie das Verfahren blosslegt und den Betrachtern zeigt, wie sie kühn mit dem Japanmesser hantiert und seziert. Man hat Angst um sie, bald wird Blut fliessen. Doch mit sicherer Hand dirigiert sie das Messer auf der wacklig hängenden Papierwand und zaubert ein Büchergestell vor die Augen der Zuschauer.

Verletzt sie das Material, das dem beseelten Buch der Natur entrissen ist? Verfolgt es sie in ihren Träumen? Sie wehrt sich entschieden dagegen. Sie liebt ihr Papier, Papier in jeder erdenklichen Form. Hat sogar eine alte Rolle ergattert, 50 m lang und in tagelanger Arbeit eine einzige ununterbrochene spitzenartige Strähne geschaffen.

Sie tischt uns Konservengläser auf mit kleinen, ausgeschnittenen Papierfäden, aufgehoben und eingesperrt. Sie schlängeln und zieren sich beim Herausnehmen. Zwielichtige, geräuschvolle Gebilde in der Geometrie des Efeus. Kaum sind sie herausgehoben, bewegen sie sich, setzen zu Minipirouetten an.

Verschmitzt sagt sie: «Ich bin eine schlechte Hausfrau, aber eine leidenschaftliche Waschfrau.» Sie schaut in die trommelnde Maschine, wie es schäumt und wirbelt und gurgelt, sieht sich am fliessenden Wasser als kleine Bärin (lat. ursula) und fischt mit den Tatzen die Fische, die Spitzen und Kleidungsstücke heraus, dreht und wendet sie, bevor sie zur Leine kommen, nicht wohlgeordnet nach Ähnlichkeit oder Zusammengehörigkeit, immer anders. Die Materialien verwandeln sich in ihrer unbändigen Fantasie zu einem textilen, aufgefädelten Augenschmaus. Da steckt’s, da. Da will sie alleine sein. Da quellen die Inspirationen hervor, wo sich alles verwandelt, wo die Zufälle zu Einfällen werden, zu Formen und Figuren aus Punkt, Linie, Kreis; das Spiel mit Text und Textil.

URRU erinnert an Vudu. Gehört sie zu den Parzen? Wir fussball- und tennisfreundlichen Besucher sind froh, heil dem Besteck der Messer, Scheren und Fäden dieser Magierin entronnen zu sein.

TS